Anita Lasker-Wallfisch *1925

Als 18-Jährige wurde Anita Lasker-Wallfisch nach Auschwitz deportiert, wo sie als Mitglied des Frauenorchesters das Ein- und Ausmarschieren der Häftlinge auf dem Cello begleiten musste. Zusammen mit ihrer Schwester überlebte sie Auschwitz und Bergen-Belsen. Die Mitbegründerin des London Chamber Orchestra lebt heute in London und sieht es als ihre Pflicht an, der nächsten Generation vom Holocaust zu berichten.

 

 

Über das Glück

Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie den Begriff „Glück“ hören?

Zufrieden zu sein mit dem was man hat. Und nicht auf die Meinung anderer Leute zu hören.

 

Was bedeutet Glück für Sie persönlich?

Wenn nichts Schlimmes passiert,  wenn ich weiß wo meine Kinder und Enkelkinder sind, wenn ich in Ruhe in meinem Garten sitzen kann und mir keine Sorgen machen muss. Das ist „Glück“ für mich. Ich brauche nicht viel, nichts Materielles. Je weniger man hat, desto freier ist man.

 

Was war der glücklichste Moment in Ihrem Leben?

Der glücklichste Moment war wahrscheinlich, als ich einen Sohn auf die Welt gebracht habe. Das war schon ein ziemliches Glücksgefühl. Noch ein glücklicher Moment: Mein Sohn hat mir einmal gesagt „Thank you Mommy for borning me“. Er hat sich bei mir bedankt! Also, das ist doch wirklich etwas wert.

„Je weniger man hat, desto freier ist man.“

Mit Chuzpe und Musik durch die NS-Zeit

Sie hatten selbst ein sehr enges Verhältnis zu Ihren Eltern und sagten einmal, dass Sie je älter Sie werden, umso mehr Bewunderung für Ihre Eltern haben.

Ja, stellen Sie sich vor, dass wir 1942 – als die Welt zusammengefallen ist – Schiller gelesen haben. Mein Vater hat genau gewusst, was da draußen passiert, aber er wollte uns auf einem geistigen Niveau halten. Ich bewundere meinen Vater mit Respekt. Ein Mann, der voller Sorgen gewesen sein muss: Was passiert mit den Kindern, was ist hier los? Dass es ihm möglich war, in dieser schmutzigen Welt ein Niveau zu halten, das ist bemerkenswert.

 

Wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken, wer waren Ihre Vorbilder? Was hat Sie daran inspiriert?

Pablo Casals, ein großer Cellist und ein Mann mit einer fantastischen Moral. Er hat nie in einem Land gespielt, in dem Faschismus herrschte oder in dem ihm das Regime nicht gefallen hat.

 

Was hat Ihnen zurückblickend im Leben geholfen, Ihre Ziele zu erreichen?

Chuzpe! „Chuzpe“ ist ein jüdisches Wort und bedeutet so viel wie „Unverschämtheit“, „Frechheit“, außerdem „Verachtung“. Ich habe meine Feinde aus tiefster Seele verachtet und mich von den Leuten, die mich „dreckiger Jude“ nannten, nicht angesprochen gefühlt.

 

Was hat Ihnen in besonders schwierigen oder gar ausweglosen Situationen wie z.B. die Deportation der Eltern, Ihrer Zeit im Gefängnis oder auch in Ausschwitz geholfen, weiterzumachen?

Das ist eine gute Frage und schwer zu sagen. Im Gefängnis hat man eine Bibel gehabt, ich konnte das Neue Testament auswendig. Das hat geholfen irgendwie. Ich hatte auch immer versucht, mich gedanklich etwas höher zu setzen, weg von dem, was da passierte.

 

Welche Rolle hat die Musik dabei gespielt?

Musik macht sehr glücklich. Ich konnte dasitzen und in meinem Kopf etwas spielen, was kein Mensch hörte. Nur ich hörte es. Man kann sich mit Musik auf ein anderes gedankliches Niveau begeben.

„Ich habe meine Feinde aus tiefster Seele verachtet und mich von den Leuten, die mich ‚dreckiger Jude‘ nannten, nicht angesprochen gefühlt.“

Glaube an und Vertrauen in das Gute im Menschen

In Ihrem Buch kommt immer wieder der Begriff „Dankbarkeit“ vor: dankbar dafür, diese Kindheit gehabt zu haben, dankbar dafür, dass Ihnen gute Dinge zugestoßen sind und Sie in allem Unglück auch immer wieder Glück hatten. Warum ist Dankbarkeit so wichtig im Leben?

Eigentlich müsste ich für so Vieles, das zufällig passiert ist, dankbar sein. Mein Leben ist eigentlich eine Akkumulation von irrsinnigen Zufällen. Das hätte auch ganz anders ausgehen können. Wenn wir nicht diese Papiere gefälscht hätten, wären wir viel eher nach Ausschwitz gekommen – dann würde ich heute nicht hier sitzen. Alles hängt von einem lächerlichen Zufall ab im Leben. Dafür bin ich dankbar.

 
Können Sie nach den Gräueltaten des Naziregimes – die von Menschenhand begangen
wurden – überhaupt noch an das Gute im Menschen glauben?

Wir haben Beides in uns. Es kommt darauf an, was gefördert wird.

 

Was machen für Sie vertrauensvolle menschliche Beziehungen aus; wann können Sie jemandem vertrauen?

Man weiß instinktiv, wem man vertrauen kann und wem nicht. Meine Schwester und ich waren auch nach der Zeit im KZ wahnsinnig kritisch und hatten eine Fähigkeit entwickelt, Menschen zu analysieren. Wir haben dagesessen wie die großen Richter: wenn jemand ins Zimmer kam, haben wir gesagt „Den möchte ich nicht im Lager treffen.“ Man hat sich instinktiv gefragt, wie sich dieser Mensch in einer Notsituation benehmen würde. Das haben wir uns dann aber bald abgewöhnt, denn damit kommt man nicht weit. Man muss weniger kritisch sein und der Bewertung des Gegenüber mehr Spielraum geben. Ich bin nicht kompetent zu beurteilen, wie sich dieser im Lager benehmen würde. Wie benimmt man sich, wenn man Hunger hat? Wir haben ja heute keine Ahnung, was Hunger bedeutet! Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich.

 

Welche Rolle spielen Freundschaften heute in Ihrem Leben?

Es gibt nur noch wenige. So ist das, wenn man alt ist. Früher habe ich viele Freunde gehabt – die existieren nicht mehr. So ist das im Leben. Ich bin gut befreundet mit meinen Enkelkindern, besonders mit dem Simon. Er hat neulich im Fernsehen über mich gesagt: „Das ist nicht meine Großmutter, das ist meine Freundin.“

 

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Religion in Ihrer Familie kein großes Thema war.

Es war überhaupt kein Thema. Jetzt weiß ich, dass Religion irrsinnig gefährlich ist. Sehen Sie, was im Namen der Religion geschieht und geschehen ist. Nicht nur jetzt. Wie fingen z.B. die Kreuzzüge an? Wenn ich verlange, dass Sie genau die gleichen Gedanken haben wie ich – ist das doch ein Wahnsinn!

„Wie benimmt man sich, wenn man Hunger hat? Wir haben ja heute keine Ahnung, was Hunger bedeutet! Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich.“

Erinnern als Pflicht

Was treibt Sie bis heute an, dass Sie mit fast 90 Jahren anderen Menschen von Ihren Erfahrungen im KZ berichten?

Es ist eine Pflicht, die wir, die wir heute noch leben, haben. Gehen Sie nach Belsen (KZ Bergen-Belsen) und sehen sie tausende von toten Menschen. Wir sind die Stimmen von diesen Menschen! Wenn wir alle tot gewesen wären, würde man heute nicht darüber sprechen. Das ist eine absolute Pflicht, die erfüllt werden muss. Vor allem, wenn man danach gefragt wird. Aber Gott-sei-Dank ist die Neugierde da, die Neugierde Ihrer Generation. Das ist sehr wichtig.

 

Was möchten Sie den nächsten Generationen mitgeben?

Bevor Ihr Euch umbringt, trinkt Kaffee miteinander. Vielleicht ist der Gegenüber gar nicht so schlimm, vielleicht ist der ganz nett. Man muss neugierig sein und nicht gleich ablehnen. Benehmt Euch so, dass Ihr es würdig seid, mit dem Namen „Mensch“ benannt zu werden. In der Tierwelt töten die Tiere einander, wenn sie Hunger haben. Wir müssen es uns verdienen, eine höhere Erfindung zu sein. Wir haben immerhin Gehirne, warum benutzen wir sie nicht, um Gottes Willen? Das ist meine Message.

„Bevor Ihr Euch umbringt, trinkt Kaffee miteinander. Vielleicht ist der Gegenüber gar nicht so schlimm, vielleicht ist der ganz nett.“

 

Das Interview für „Interview meines Lebens“ führte Kerstin Humberg, Foto: Kerstin Humberg